Eine meiner schönsten Touren führte mich zur Moose Cree First Nation an die James Bay in Ontario – mit Wildgans überm Lagerfeuer und Nacht im Tipi.
Die Indianer schlafen. Männer mit den Füßen auf Gepäckballen, Frauen quer über zwei Sitze gestreckt, Kinder zusammengerollt inmitten ihres Spielzeugs. Das rhythmische Rattern der Gleise und die monotone Waldlandschaft haben den ganzen Zug in einen Dornröschenschlaf versetzt. Nur Merrill Bond ist hellwach. Der stämmige Mann steuert den „Polar Bear Express“ ins Reservat der Cree Indianer.
Bond muss wachsam sein. „Der Frost lässt die Schienen wandern“, erklärt er. Über Nacht kann die Spurweite plötzlich enger oder weiter werden. Hinter jeder Kurve mag eine Überraschung lauern: „Ich hatte schon Bäume auf den Schienen und Schneegestöber im Juli.“ Der Permafrost prägt auch die Landschaft: Die Bäume werden zwar bis zu 300 Jahre alt, sehen jedoch klein und verkrüppelt aus.
An der Endstation Moosonee starten Wassertaxis nach Moose Factory Island inmitten des Elchflusses. Was sich nach einer Fabrik anhört, ist die älteste von Weißen besiedelte Ortschaft Ontarios. Die Hudson Bay Company eröffnete hier 1673 einen Handelsposten für das Pelzgeschäft und knüpfte damit an eine Cree-Tradition an – auch die Indianer hatten vorher schon Tauschhandel mit ihren Nachbarn betrieben.
„Inzwischen kommen viele Weiße, um von uns zu lernen“, sagt Guide Clarence Trapper. Und erteilt gleich eine Lektion in indianischen Benimmregeln: „Es ist unhöflich, einem Indianer direkt in die Augen schauen“, sagt er. „Es sei denn, ihr wollt ihm eine Liebeserklärung machen“, schiebt er grinsend hinterher. Erschreckt schlagen wir unsere Augen nieder. „Aber ihr könnt mich ruhig ansehen – ich habe mich daran gewöhnt.“
Clarence führt durch das Museum des Stammes, in dem das Alltagsleben vor und nach Ankunft der Weißen dokumentiert wird – angefangen bei Rindenhütten über Babywindeln aus Moos bis zur eigenen Silbenschrift. Auf einigen Grundstücken der Insel qualmt es aus kleinen Hütten, wo Fleisch oder Fisch geräuchert wird. Die Cree sind traditionell Jäger und Sammler – alle Versuche der weißen Eroberer, sie zu Farmern zu erziehen, waren vergeblich.
Jeden Herbst schlagen sich die Indianer zum Jagen in die Wälder, die Dörfer sind dann wie ausgestorben. Hitzefrei kennen die Schüler im Norden Ontarios nicht, dafür gibt’s zweimal im Jahr „jagdfrei“. „Ich war acht Jahre alt, als ich meine erste Gans erlegte,“ erinnert sich Clarence. „Mein Vater stand stolz daneben. Vor lauter Schreck habe ich das Gewehr fallen lassen.“ Für seinen Schwiegervater musste Clarence sich sogar einem „Elchtest“ unterwerfen. „Schieß mir einen Elch,“ trug ihm der Vater seiner Verlobten auf, um ihn zu prüfen. Clarence brachte ihm gleich zwei.
Nach dem Museum brechen wir in die Wildnis auf. Mit breiten Motorbooten steuern Clarence und sein Kollege Daryl gegen die Strömung des bernsteinfarbenen Moose River. Während die Bootsführer mit den Stromschnellen kämpfen, zieht vor unseren Augen dichter Wald vorbei, Schwärme von Wildgänsen fliegen über unsere Köpfe hinweg. Plötzlich ein heiserer Schrei hinter uns im Boot – Clarence imitiert die Gänse täuschend echt und bringt sie für einen Moment vom Kurs ab, bis sie den Trick bemerken.
Nach einer kurzen Wanderung steigen wir in Kanus um und paddeln über den Lake Negobau. Die Boote gleiten durch Inseln aus Seerosen und zerteilen das wogende Schilf. Das Camp für die Nacht liegt direkt am Seeufer: ein Tipi, drei Holzhütten, eine Feuerstelle. Clarence zaubert zwei wohl genährte Wildgänse aus seinem Rucksack hervor und bringt innerhalb weniger Minuten ein Feuer in Gang.
Dass bei den Indianern Fleisch auf dem Speiseplan ganz oben steht, war von Anfang an klar. „Ihr seid doch keine Vegetarier, oder?“ hatte Clarence kurz nach dem Kennenlernen gefragt, in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet. Eigentlich hatte er ja Biber zum Abendessen versprochen: „Ich hab da noch ein paar in der Tiefkühltruhe.“ Aber dann konnte er sie unter all dem gefrorenen Wild nicht finden – die Truhe muss die Größe eines Kleinwagens haben.
Inzwischen hat die untergehende Sonne den Himmel in ein dunkelrotes Inferno verwandelt. Clarence erzählt Geschichten. Zwischendurch hält er immer wieder kurz inne, um der gefüllten Gans einen Schubs zu geben, die an einer Schnur neben dem Feuer hängt. Das andere Tier röstet auf einen Stock gespießt direkt über der Glut.
Aus einem Tuch packt der Cree seine persönlichen Schätze aus: Muschelschalen, getrocknetes Salbei zum Räuchern, eine Adlerfeder, Tabak, Zedernholz. Alles Dinge, die für traditionelle Zeremonien verwendet werden. „Ich trage meine Kirche immer bei mir,“ bekennt Clarence, der wie viele Cree die Religion seiner Ahnen praktiziert. Er ist froh, dass sich auch seine Kinder für die Traditionen interessieren: „Das ist ganz anders als vor zwanzig Jahren“, sagt er. „Da war es nicht cool, Indianer zu sein.“
Bald sind die beiden Gänse gar, und unser Führer schneidet große Stücke ab. „Mmhhh,“ seufzt Clarence, während er sich den Bauch reibt und lachend die Städter nachahmt, die ihre erste Wildgans probieren. Über dem Lager funkeln jetzt die Sterne, während am fernen Horizont die Blitze eines Gewitters zucken. Bis tief in die Nacht erzählt Clarence Geschichten von der Jagd, bis nach und nach alle in den Schlaf gefallen sind.
Infos: Mit dem Polar Bear Express war ich 2003 unterwegs. Mit ihm kann man immer noch die Moose Cree besuchen. Infos: www.northlander.ca, www.creevillage.com.