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Vancouver stand auf meiner „bucket list“ lange ganz oben. Ein guter Grund, um bei meinem ersten Besuch erstmal die Highlights abklappern. Doch dann finde ich es spannender, die Stadt aus Sicht der First Nations zu erleben: mit Erica Vader vom Stamm der Shishalh.

Die Kricketspieler in Stanley Park haben ein Handicap: Sie müssen gewaltig aufpassen, dass sie den Ball nicht in die Kanadagänse schlagen, die am Rande des Spielfelds schwarmweise nach Futter suchen. Doch immerhin kommen ihnen die Japaner nicht in die Quere, die hier – ebenfalls schwarmweise – mit ihren Selfiesticks rumfuchteln, um auf einem Foto mindestens ein Dutzend Landsleute und die Skyline von Vancouver unterzubringen.

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Vorsicht Gänse: Die Kricketspieler müssen aufpassen.

Besonders heftig sind die Fechtkämpfe vor den neun Totempfählen am Brockton Point. Immer wieder spucken Busse hier neue Touristen aus, die sich die indianischen Relikte nicht entgehen lassen wollen – immerhin die meistbesuchte Sehenswürdigkeit in British Columbia. Die mehrere Meter hohen, aus ganzen Bäumen geschnitzten Pfähle zeigen bunte Tiere: Raben, Bären, Adler. Dahinter verbergen sich die Familienlegenden einzelner Clans.

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Viele Totempfähle zeigen Tierfiguren.

Eine knappe Stunde zu Fuß habe ich von Downtown in den Park gebraucht. Ein Lieblingsspielplatz der Vancouverites: Sie radeln, joggen und skaten rund um die 400 Hektar große Halbinsel. Sie spazieren durch die Wälder, besuchen das Vancouver Aquarium und treffen sich zum Picknick.

Die 130 Jahre alte Anlage ist der größte Stadtpark Kanadas und der drittgrößte in Nordamerika. Als ich ankomme, marschiert gerade eine Hunde-Demo durchs Gelände – Hunde vorneweg, Herrchen und frauchen hinterher -, alle hundert Meter sind Trinknäpfe aufgestellt.

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Sind alle mit drauf? Touristen in Stanley Park.

Doch eigentlich leben hier wildere Tiere, sagt mein Guide: Biber und Kojoten, Waschbären und sogar Seehunde. Doch eigentlich geht es unserer Tour heute um „sprechende Bäume“. „Jeder Baum im Park erzählt eine eigene Geschichte!“, sagt Erica Vader vom Stamm der Shishalh, die sich für diesen Job nicht in eine klischeehafte Tracht zwängen muss: Mit Jeans, Softshell-Jacke und T-Shirt sieht die 24-Jährige ganz studentisch aus. Dabei hat sie das Studium schon hinter sich: Erica ist Kulturanthropologin.

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Erica Vader ist Kulturanthropologin.

Die indianische Sicht auf die Wildnis ist für sie nicht nur Job, sondern auch Herzensangelegenheit: „Essbare Pflanzen und das Überleben in der Wildnis haben mich schon als kleines Mädchen interessiert“. Und sie erklärt die Hintergründe: Die Provinz ist seit Jahrtausenden die Heimat der First Nations. Mehr als 200 Stämme leben hier noch – das ist fast ein Drittel aller kanadischen Ureinwohner.

Vancouver Aquarium im Stanley Park, Stadt Vancouver, British Columbia, Kanada
Das Vancouver Aquarium liegt mitten im Park.

An der Küste führten sie ein Leben im Überfluss: „Der Ozean lieferte uns Fisch und Meeresfrüchte, der Wald war Lebensmittelladen und Drogerie, Apotheke und Baumarkt zugleich“, sagt Erica. „Wir haben bis heute offiziell das Recht, im Stanley Park zu ernten.“ Zu jedem Baum, jedem Strauch, jeder Blüte erzählt sie mir etwas: Rindentee von der Küstentanne hilft gegen Grippe, das Holz der Douglasie wurde für Rauchzeichen verwendet, Schachtelhalme dienten als Zahnseide. Und wenn man die Nadeln der Hemlocktanne ins Wasser hängt, legen Heringe ihre Eier darauf ab. „Hmm, Fischeier mit getrockneten Beeren sind eine Delikatesse bei uns“, seufzt sie.

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Im Aquarium sind auch Beluga-Wale zu sehen.

Die wichtigste Pflanze ist jedoch die Western Red Cedar, der Riesen-Lebensbaum. Aus der Rinde fertigen die First Nations Körbe und Hüte. Erica hält ihre Hand an einen Stamm und deutet einen Schnitt an: „Wir schneiden nur an der Nordseite, damit die Sonne den Stamm nicht verbrennt. Und wir nehmen nie mehr als zwei Handbreit, damit die Rinde nachwachsen kann.“ Erica könnte theoretisch gleich loslegen, sie ist ausgebildete Zedernholzweberin.

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Ein abgestorbener Riesen-Lebensbaum dient als Nährboden.

Aus dem Holz des Riesen-Lebensbaums entstanden auch die Totempfähle und Einbaumkanus für bis zu 40 Passagiere. „Meine Vorfahren brauchten bis zu drei Jahre für den Bau eines Bootes“, sagt Erica. „Mit modernem Werkzeug schaffen wir es heute in drei Monaten.“ Die Waldführerin greift in einen Haufen roten Holzmehls. Mit Bärenfett und Fischöl wurde es früher zu einer Hautcreme vermischt. „Ganz schön mühsam, heute nehmen wir lieber Nivea“, lacht Erica.

Wir machen Pause am Beaver Lake, einem sumpfigen Gewässer mit einem Meer aus Seerosen. Erica packt Müsliriegel und eine Thermoskanne mit Labrador Tea aus. Wir halten Ausschau nach dem Biber, der hier tatsächlich sein Revier hat – und die Gärtner in Stanley Park viel Nerven kostet. Er knabbert nicht nur sämtliche neu gepflanzten Bäume an, sondern legt mit seinen Bauten auch langsam den See trocken.

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Der Beaver Lake versumpft langsam.

Erica erzählt von ihrem Stamm, in dem von 2.000 Mitgliedern zeitweise nur noch sieben die traditionelle Sprache Sháshíshálh sprachen, eine bedrohliche Situation für ein Volk, dessen Geschichte immer nur mündlich überliefert wurde. Erst seit einigen Jahren greifen einige aus der jungen Generation wie Erica das Wissen der Stammesältesten auf und lernen wieder ihre Sprachen.

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Erica Vader versteht die Sprache der Bäume.

Erica Vaders Stamm hat in langjähriger Arbeit mit Linguisten ein Wörterbuch erstellt, um die Sprache zu retten. Inzwischen beginnen nicht nur die Kinder in der Vorschule mit Sprachunterricht, sondern auch ihre Eltern – um sich mit ihrem Nachwuchs auf Sháshíshálh unterhalten zu können. Der Erhalt ihrer Kultur ist gesichert!

Infos: Exkursionen durch Vancouver mit Kajak oder zu Fuß organisiert Talaysay Tours mit einem Fokus auf First Nations und Umwelt.

Die Recherche zu diesem Beitrag wurde unterstützt von Destination BC.