450 Inuit – und ich: Bei meinem Besuch in Ulukhaktok auf Victoria Island konnte ich drei Tage in den Alltag einer arktischen Gemeinde eintauchen: Angeln zwischen Eisschollen, Plaudern mit Stammesältesten, Picknick am Polarmeer.
Der Wind tost. Er brüllt und pfeift. Er drückt die spärlichen Gräser flach an den Boden und bringt unsere Kapuzen zum Knattern. Er raubt den Atem und die Sprache. Doch eigentlich gäbe es gar nichts zu sagen, den der Ausblick spricht für sich: Auf dem Polarmeer dümpeln Eisschollen und Eisberge, kleine rote und braune Häuser ziehen sich in Reih und Glied die hufeisenförmige Bucht entlang, dahinter beginnt das Nichts, die große Leere der arktischen Tundra.
Der Eindruck von Weite und Einsamkeit hatte sich bei mir schon während des Fluges eingebrannt: die borealen Wälder südlich von Yellowknife; später die Tundra, ein nicht endender Flickenteppich aus Seen, Inseln und Felskuppen; und schließlich die Beaufort Sea, das Nordpolarmeer, das selbst jetzt Anfang Juli noch zu weiten Teilen von Eis bedeckt ist.
Am winzigen Flughafen von Ulukhaktok erwartete mich Larry Olifie, ein schlanker Inuit mit verschmitzten Augen. „Schonmal ATV gefahren?“, fragte er mich und deutete auf das Fahrzeug, das wir die nächsten drei Tage teilen würden: ein rotes Quad, PS-stark und staubbedeckt. Der kalte Fahrtwind brannte im Gesicht während des kurzen Sprints hinüber ins Dorf.
Und nun stehen wir auf dem Hausberg von Ulukhaktok, einer von nur zwei Gemeinden auf Victoria Island, der zweitgrößten kanadischen Insel. Auf zwei Dritteln der Fläche Deutschlands leben hier nur rund 2.000 Einwohner, 450 davon in Ulukhaktok, dem „Platz der Ulu-Teile“. Über Jahrhunderte kamen die Ureinwohner hierher, um Schieferstein zum Bau von „Ulus“ zu suchen – so heißt das gebogene Messer, mit dem die Frauen Tiere zerlegen und Felle zuschneiden.
Das Dorf ist überschaubar: ein Hotel, ein Restaurant, eine kleine Verwaltung, zwei Supermärkte, Schule, Polizei, Sanitätsstation. Larry stoppt bei jedem Passanten und stellt uns persönlich vor. Alle strahlen übers ganze Gesicht und begrüßen mich so herzlich, als wäre ich ein neues Gemeindemitglied. Dann verstaut Larry ein Gewehr und ein großes Messer auf dem Quad.
Am Strand entlang holpern wir in Richtung Westen. Alle paar Minuten ist eine Flussmündung zu durchqueren. Einfache Hütten aus Sperrholz säumen das Ufer, hier treffen sich die Familien im Sommer fast jeden Abend zum Angeln, Teetrinken und Kochen. Keine Welle kräuselt das Polarmeer – das Wasser ist so klar, dass die Eisschollen zu schweben und die Fische durch die Luft zu schwimmen scheinen.
Larry schwärmt von der anbrechenden Fischsaison: Sobald das letzte Eis verschwunden ist, werfen die Inuit ihre Netze aus, um Seesaiblinge zu fangen. Fischfang und Jagd, das war immer die Essenz des Lebens im Norden: Wale, Robben und Walrosse aus dem Polarmeer, Bären, Karibus und Moschusochsen aus der Tundra. Die Jahres- und Jagdzeiten prägen nach wie vor den Rhythmus in Ulukhaktok.
Auch Larry hat den Jagdtrieb im Blut. Wenn er einen Bären sieht, ist sein erster Gedanke: „Wo ist mein Gewehr“. Tauen die Seen auf, macht er die Angel bereit. Und wenn er einen Wal sieht, greift die Hand instinktiv zur Harpune. Ein Lifestyle, bei dem Europäer erst einmal schlucken müssen.
Doch Larry ist damit aufgewachsen: Als Kind war er tagelang draußen, jagte und kochte für sich. Mit vier Jahren schoss er seine erste Robbe, mit neun bekam er eine eigene Waffe. Er beobachtete Eisbären aus wenigen Metern Entfernung. Und einmal musste er einen Wolf töten, der plötzlich vor ihm stand.
Unendlich zieht sich die baumlose Landschaft: ein Hügel, ein See, ein Hügel, ein See. Nur am unterschiedlichen Boden erkennt man, dass es vorwärts geht: Mal sind es tiefe Rinnen, dann Felder aus scharfkantigen Steinen, später Moosballen wie dicke Kuhfladen, oft auch nur purer Fels. Einmal stoppt Larry am Skelett eines Moschusochsen. „Wölfe“ meint er nur lakonisch – ein Inuit hätte keine Reste liegengelassen.
Während der Fahrt im Schneckentempo erzählt Larry von seinem Arbeitsleben, angefangen beim ersten Job, wo er beim Errichten riesiger Strommasten half. Später war er Hausmeister, Koch, Geschirrspüler, Minenarbeiter, Flugzeug-Tankwart, Elektriker, Zimmermann, Altenpfleger, Lkw-Fahrer und Guide. Keine schlechte Bilanz für seine 50 Jahre.
Nach dem Abendessen im kahlen Speisesaal des einzigen Hotels am Ort müsste eigentlich die Sonne untergehen. Tut sie aber nicht, den ganzen Monat über. Beim Mitternachtsspaziergang im gleißenden Licht sehe ich Männer beim Bootsbau oder Reparieren ihrer Quads, Frauen beim Plaudern vor der Haustür, Kinder beim Toben in den Straßen. Ein Traumzustand für Fotografen: 24 Stunden lang bestes Licht.
Am nächsten Tag lassen wir uns durch Ulukhaktok treiben. Inzwischen kennen mich alle Einwohner, im Fünf-Minuten-Takt werde ich von einem breit lächelnden Mann oder einer freundlichen Frau mit meinem Namen angesprochen. Wir besuchen Larrys Schwiegermutter Elsie Klengenberg, die sich landesweit einen Namen als herausragende Künstlerin gemacht hat. In ihrem Wohnzimmer verkauft sie Drucke mit Szenen aus dem Inuit-Leben. „Ich habe diese Arbeit von meinem Vater gelernt“, sagt die 71-Jährige. „Ganz ohne Erklärungen, nur vom Zusehen.“
Larry muss lachen über das vielerorts noch herrschende Klischee vom „Eskimo“, der in einem Iglu lebt und mit dem Hundeschlitten auf die Jagd geht: „Wir haben nie in Iglus gewohnt – die Häuser aus Eisblöcken dienten nur zum Lagern von Fisch.“ Die Moderne hat die Inuit, von denen im Norden Kanadas rund 55.000 leben, längst eingeholt: Motorboote ersetzten Kanus, Quads die traditionellen Hundeschlitten, Englisch die Inuit-Sprache, Satellitenfernsehen die Geschichten am Lagerfeuer. Aus Nomaden, die dem Wild und den Fischen gefolgt waren, wurden sesshafte Dorfbewohner.
„Wie Jugendliche überall auf der Welt begeistern sich die jungen Inuit des Ortes für Hockey und verbringen ihre Freizeit mit Computerspielen. Einerseits!“, sagt Larry. „Andererseits gehen sie mit dem gleichen Enthusiasmus zur Jagd und kommen zur Trommeltanz-Gruppe.“ Die Tänze werden vor allem im Winter geübt, wenn wochenlang kein Sonnenstrahl über den Horizont fällt. Dann bleibt nicht viel zu tun: Tanzen, Singen, Fitnesstraining – und Fernsehen.
Heute leben alle in einfachen, aber modernen Häusern – Bauen ist aufgrund des Permafrosts sehr teuer, ebenso wie Lebensmittel, wie Larry im Northern Store zeigt. Ein Stück Käse: zehn Dollar, ein Brot: sechs Dollar, ein Pack Orangensaft: neun Dollar. Nur einmal im Jahr kommt das Fährschiff zur Versorgung. Es bringt vor allem Diesel zum Auffüllen der Treibstofftanks, Waren für den Northern Store und alles, was die Einwohner vorher bestellt haben – von Jagdwaffen bis zu Snowmobiles.
Nur eine Handvoll „historische“ Bauten erinnern an die Gründerzeit des Dorfes: Erst 1939 entstand hier ein Handelsposten der Hudson Bay Company, gefolgt von einer katholischen Missionsstation – und einem Posten der Royal Canadian Mounted Police. Heute verrichtet hier Constable Seth Thomas seinen Dienst.
Der junge Offizier wird als „Springer“ in den Gemeinden des Nordens eingesetzt und lernte auf diese Weise die Unterschiede zwischen den Regionen kennen. „Ulukhaktok ist das freundlichste und authentischste der Dörfer, in denen ich arbeite“, sagt Thomas. „Das liegt vermutlich an den Stammesältesten, denen es gelingt, die Menschen zusammenzuschweißen.“ Zusammenhalt im Ort ist keine Selbstverständlichkeit – andere Dörfer kämpfen mit Alkoholismus, Drogenproblemen und hohen Selbstmordraten.
Am Abend treffen wir Larrys Großfamilie am Strand. Das Lagerfeuer prasselt, darüber brodelt hausgemachter Eintopf mit Fleisch vom Moschusochsen. Als Appetizer gibt es Räucherfisch mit einem Dip aus Entenfett. Larry und seine Frau Helen werfen ihre Angeln zwischen den treibenden Eisschollen aus. Alle schlürfen heißen Tee aus Blechtassen. Andächtig schauen die Kinder zu, wie das Stockbrot „Bannock“ langsam gar wird, während Großmutter Elsie Klengenberg den Teig für den Nachschub knetet. Feierabend in der Arktis.
Infos: Das Arctic Char Inn ist das einzige Hotel in Ulukhaktok. Weitere Infos über NWT unter www.spectacularnwt.de.
Die Recherche zu diesem Beitrag wurde unterstützt von Northwest Territories Tourism.