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Wie Paris ohne Jetlag! Wie Rio ohne Zuckerhut! Wie New York wegen der Wolkenkratzer! Um Montréal ranken sich viele Klischees. Doch wie ist die größte Stadt Québecs wirklich? Wahl-Montréaler Ole Helmhausen schildert in seinem Gastbeitrag, wie sich der Alltag anfühlt.

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Keine Chance mit Schulfranzösisch: Café in Montréal.

Die Bestellung im Restaurant gebe ich in meinem besten Schulfranzösisch auf. Und dann – verstehe ich von der Antwort des Kellners kaum ein Wort. Konsonanten zischen mit Lichtgeschwindigkeit an mir vorbei. Ein paar Vokale bleiben in meinen Ohren hängen, nanosekundenlang festgetackert mit Salven kurzer, „dz“ gesprochenen d‘s und diversen „c’t‘une” (für „c‘est une“) und “p’tit“ (für petit). Das soll die Sprache Molières sein? Bin ich etwa nicht in der, wie es immer so schön heißt, größten französischsprachigen Stadt nach Paris?

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Stadt des Streetart.

Aber das ist nur ein Klischee. Ja, Montréal parliert Französisch. Aber was für eins! Hierzulande Québécois genannt, hat es nicht nur 400 Jahre Trennung von Mutter Frankreich auf dem Buckel, sondern auch 200 Jahre englischer Dominanz und 50 Jahre Kampf um das Überleben im, wie es lange hieß, „anglophonen Ozean“. Heute ist die Vier-Millionen-Metropole am St.-Lorenz-Strom ein polyglotter Mikrokosmos – und ein Brutplatz für Klischees.

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Ein bisschen wie Paris …

Für Amis auf der Suche nach der schicken Montréalerin mit dem Baguette unterm Arm ist Montréal wie Paris, nur ohne Jetlag. Torontonians, während der Festivalzeit im Sommer zu Besuch, erleben ungehemmten Hedonismus und fühlen sich an Rio de Janeiro erinnert, und deutsche Touristen finden Montréal leider, leider, völlig amerikanisiert, der Bürotürme und Inline-Skater wegen.

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… und ein bisschen wie New York …

Was also ist Montréal? Ich finde die, oder vielmehr eine Antwort nach dem Wesen dieser Stadt im Café Le Dépanneur im Viertel Mile End. Der ungeschminkte Stadtteil erinnert mit seinen roten Klinkerhäusern an Brooklyn. Orthodoxe Juden wohnen hier, Portugiesen, Griechen und Italiener. Allo-, Franko-, Anglophone.

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Keine kulturellen Grenzen: Café Le Dépanneur.

Im Le Dépanneur macht man es sich in alten Ohrensesseln und Sofas bequem, isst „le Grilled Cheese” und dazu „le Café Italien”. Französische und englische Wortfetzen mischen sich mit italienischen, spanischen, russischen Worten. Kulturelle Grenzen? Mais non. Eher eine lässige, problemlose Melange von Sprache und Kulinarik.

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Im Künstlerviertel Mile End.

Anthony Kennedy möchte nirgends sonst leben. „Die Menschen hier haben andere Prioritäten als bei mir zu Hause”, sagt der aus Athens im US-Bundesstaat Georgia stammende Theaterregisseur. „Man ist mehr an einem wunderbaren Abendessen in netter Gesellschaft interessiert als an einem noch größeren Auto.“

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Lieber ein Abendessen mit Freunden.

Kultur war in Québec schon immer wichtig, und das Leben in Montréal ist preiswerter als in jeder anderen vergleichbaren Metropole Nordamerikas. „Wenn man nicht jeden Tag ums Überleben kämpfen und ständig sein Geld zählen muss“, sagt Kennedy, „können einfach viel mehr interessante Dinge geschehen.“

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Erlaubt ist, was kultig aussieht.

Im Mile End, wo die meisten Künstler Kanadas zu Hause sein sollen, gilt das allemal. Doch Montréals tolerante Stadtkultur lässt auch in vielen weiteren Vierteln keines der beiden Gründervölker wirklich dominieren. Côte-des-Neiges, Notre Dame des Grâce, La Petite-Italie, Parc Extension: alles Nachbarschaften, in denen Französisch und Englisch nur zwei von vielen Sprachen sind. Man reibt sich, doch am Ende leben die Menschen hier Liberalität und Offenheit wie in kaum einer anderen nordamerikanischen Stadt.

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Die Künstlerdichte ist hoch.

Und Montréal weiß davon zu profitieren. Mehr als die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung ist zweisprachig, ein Fünftel mehrsprachig. Jedes Jahr verlassen 40.000 Absolventen die Hochschulen der Stadt. Aus diesem Pool bedienen sich vor allem die kreativen Industrien der Stadt, allen voran Ubisoft (global aktiver Videospiele-Hersteller), Framestore (Spezialeffekte für Hollywood), Moment Factory (kreiert Multimedia-Erlebnisse für Microsoft, Disney und Bühnenshows für U2 & Co.). Und, na klar, auch der Cirque du Soleil mit seinen 5.000 Mitarbeitern.

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In der Heimat des Cirque du Soleil.

Am Abend gehe ich mit Kennedy weiter durch die Szene im Mile End. In Kneipen wie dem Sala Rossa ist Montréals experimentierfreudige Indie-Musikszene zu Hause. Die international erfolgreiche Kultband Arcade Fire fing hier an, und auch Les Cowboys Fringants und Heartstreets. Sie alle haben inzwischen zwar Fans auf der ganzen Welt, bleiben sich aber ihrer Wurzeln in Montréal bewusst. Sie können ohne Druck durch eine Marktanpassung einfordernde Musikindustrie ihren eigenen Sound entwickeln und von kleinen Labels produzieren lassen.

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Eine Welt, wie sie sein könnte …

Kennedy, der Klassiker wie „Kabale und Liebe“ und „Maria Stuart“ unkonventionell inszeniert und seine eigenen Stücke am liebsten in abrissreifen Häusern aufführt, findet diese Haltung, die auf das große Geld und Konventionen pfeift und die doch alles möglich erscheinen lässt, großartig. „Montréal“, sagt er und lächelt, „ist wie der Schnappschuss einer Welt, wie sie sein könnte.”

 

oleMapleLeafOle Helmhausen ist freiberuflicher Reisejournalist, Autor, Fotograf und VJ und bereist seit über 20 Jahren im Auftrag deutschsprachiger Zeitungen, Magazine und Verlage die USA und Kanada. Als Blogger betreibt er das beliebte Kanadablog OUT OF CANADA. Ole lebt in Montréal (Kanada). Man findet ihn auch auf Facebook und Twitter.

 

 

Infos: Mehr über Tourisme Montreal und das Stadtviertel Mile End.

Fotos: Québec Tourisme, Ole Helmhausen, Local Wanderer, Jean-Francois Renette, Christian Savard, Jean-Francois Hamelin, Garry Norris, André Quenneville, Gunther David, Michel Lemieux/Victor Pilon, Mathieu Dupuis